Das ist eine gute Frage, denn es ist tatsächlich kein Einzelfall, dass Tageskinder ihre Tagesmutter mit „Mama“ ansprechen. Ehrlich gesagt kommt es sogar regelmäßig vor. Darum möchte ich heute gerne mit euch darauf schauen, warum das passieren kann und wie Du als Tagespflegeperson gut damit umgehen kannst.
Wichtig: Bestimmt gibt es auch Tageskinder, die ihren Tagesvater „Papa“ nennen. Das ist ja dasselbe in Grün. Darum sind Tagesväter und Väter genauso angesprochen, auch wenn ich in diesem Artikel vor allem von Tagesmüttern und Müttern spreche.
Ich denke, dass es heute keine Tagespflegeperson mehr gibt, die ihre Tageskinder bewusst dazu ermuntert, sie mit „Mama“ oder „Papa“ anzusprechen. Das wäre natürlich sehr unprofessionell und würde absolut nicht dem Auftrag der Kindertagespflege gerecht, denn: Tageskinder haben ihre Eltern und brauchen niemanden, der diese ersetzen möchte. Die Tagespflegeperson ist für einen Teil des Tages oder ganztags dafür da, die Eltern bei der Bildung und Erziehung des Kindes zu unterstützen, damit diese z.B. einer Erwerbstätigkeit nachgehen können (vgl. § 22 SGB VIII). Sie ist eine wichtige Person in den ersten Lebensjahren des Kindes – auf keinen Fall weniger, aber auch nicht mehr.
Doch auch ohne bewusste „Ermunterung“ berichten nicht wenige Tagesmütter davon, dass sie schon einmal von Kindern mit „Mama“ angesprochen wurden. Gut nachvollziehbar, dass vor allem die Mütter der Tageskinder im ersten Moment darüber schockiert sind und sich wahnsinnig verletzt fühlen. Vielleicht kommt sogar Eifersucht auf. Oder Schuldgefühle: „Ich habe mich dafür entschieden, mein Kind in fremde Hände zu geben – und jetzt entfremdet es sich so von mir, dass es die Tagesmutter sogar schon als Mutter ansieht. Was habe ich nur getan?“ Eine Konkurrenz um die Liebe und Zuneigung des Kindes kann entstehen – und das ist auf lange Sicht belastend und schädlich für die Beziehung zwischen Tagesmutter und Eltern.
Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist es allerdings gut erklärbar, warum Kinder auch für ihre Tagesmutter den Begriff „Mama“ verwenden. Es kommen z.B. diese beiden Erklärungsansätze in Frage:
Sozial-kognitive Lerntheorie nach Bandura
Albert Banduras sozial-kognitive Lerntheorie besagt, dass Menschen durch Nachahmung lernen („Lernen am Modell“). Vor allem beim Erwerb von Sprache und bei der Aneignung sozialer Verhaltensweisen schauen Kinder auf ihre Mitmenschen und ahmen nach, was sie bei diesen beobachten. Besonders attraktive Modelle sind dabei u.a. Menschen, die eine Ähnlichkeit zum Beobachter oder zur Beobachterin haben und Menschen, die mit ihrem Verhalten Erfolg haben.
Hat eine Tagespflegeperson nun selber Kinder, die sie natürlich auch in Anwesenheit der Tageskinder als „Mama“ bezeichnen, so beobachten die Tageskinder, dass die Tagesmutter auf diese Ansprache reagiert und verknüpfen diesen Begriff mit der Person. Sie lernen „am Modell“, also an den Kindern der Tagesmutter, wie diese angesprochen wird und nehmen den Begriff in ihren Wortschatz auf, ohne die tiefere Bedeutung, die er für uns Erwachsene hat, zu erfassen.
Kognitive Entwicklung im Kleinstkindalter
Auch ein Blick auf die Denkentwicklung von Kindern kann helfen, dieses „Phänomen“ zu erklären:
Mit knapp einem Jahr sprechen Kinder (wenn überhaupt) noch nicht mehr als einzelne Wörter. Meist machen Begriffe wie „Mama“ oder „Papa“ den Anfang. Allerdings erkennen und verstehen Kinder schon bis zu 50 Begriffe für Objekte, denen sie im Alltag immer wieder begegnen, auch wenn sie diese selbst noch gar nicht aussprechen können. Sie verfügen also schon lange vor dem aktiven Sprechen über einen „passiven Wortschatz“.
Außerdem können Kleinkinder auf der Grundlage ihrer frühen Erfahrungen auch schon Kategorien bilden. Wir können dies beobachten, wenn ein Kind einen bestimmten Begriff immer wieder in ähnlichen Situationen und Zusammenhängen verwendet. Sabina Pauen, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Heidelberg, schreibt hierzu:
Ein Wort wie „wau-wau“ kann als Bezeichnung für Nachbars Pudel dienen oder für Pudel insgesamt. Vielleicht meint das Kind damit aber auch Hunde allgemein oder würde sogar einen Schmetterling „wau-wau“ nennen. Zentral ist, dass der Begriff nicht zufällig zum Einsatz kommt, sondern als Bezeichnung für eine Kategorie von Objekten dient, die bereits in seinem Kopf existiert. [1]
Es gibt noch keine Forschungsergebnisse, die eindeutig klären können, wie Kinder diese Kategorien bilden. Manche Wissenschaftler*innen gehen davon aus, dass Kinder anhand der äußerlichen Erscheinung Kategorien bilden, z.B. „Mensch mit langen Haaren = Frau“, „Mensch mit kurzen Haaren = Mann“. Frauen mit kurzen Haaren werden dann in die Kategorie „Mann“ einsortiert.
Andere gehen davon aus, dass das Verhalten des Objektes für die kindliche Bewertung wichtiger ist als sein Aussehen.
Vermutlich spielen sowohl Merkmale des Aussehens als auch des Verhaltens eine Rolle. Ist beides vorhanden, so fällt die Identifikation dem Kind besonders leicht und hilft ihm, neue Situationen zu interpretieren. Dies ist letztlich der Zweck des sogenannten kategorialen Denkens: Der Rückgriff auf bereits gesammelte Erfahrungen hilft Kindern, neue Situationen einzuordnen und angemessene Reaktionen zu zeigen. Das ist im Alltag natürlich eine enorm wichtige Fähigkeit – auch für die Bewältigung der neuen Situation, nicht mehr von den Eltern, sondern von einer Tagesmutter betreut zu werden:
Kommt ein Kind zu einer Tagespflegeperson, so übernimmt diese für einen Teil des Tages vertretungsweise die Rolle und viele der Aufgaben, die ansonsten oft die Eltern übernehmen: Sie gibt dem Kind Schutz und Sicherheit, ist seine Bezugsperson und für seine Bedürfnisse (Essen, Wickeln, Nähe, Schlaf, etc.) verantwortlich. Für Menschen, die dem Kind Sicherheit geben und die es umsorgen, hat das Kind in seinem bisherigen Leben vermutlich oft einen der Begriffe „Mama“ oder „Papa“ verwendet. Und da nun bestenfalls auch die Tagesmutter eine Person ist, bei der sich das Kind wohl und sicher fühlt, bekommt diese - der inneren Logik des Kindes folgend - natürlich auch diesen Begriff zugeordnet.
Das Kind verwendet also ein und denselben (für Erwachsene meist emotional besetzten, „heiligen“) Begriff für mehrere Menschen, obwohl diese eine nicht-vergleichbare Bedeutung für sein Leben haben. Zentral ist, dass sie dem Kind gegenüber ähnliche Aufgaben erfüllen. Und zudem vielleicht auch noch ähnliche äußerliche Merkmale (Haarlänge, Stimmhöhe, etc.) aufweisen.
Wichtig ist hier aber, dass wir die Erkenntnisse der neueren Bindungsforschung im Hinterkopf behalten:
Um sich in Fremdbetreuung wohl und sicher zu fühlen, brauchen Kinder in der Tagespflegestelle eine Bezugsperson, die feinfühlig auf ihr Bindungsverhalten (Weinen, Nachlaufen, Anklammern, etc.) reagiert. In der Bindungstheorie spricht man in diesem Zusammenhang von einem „sicheren Hafen“.
Eine achtsame und kindorientierte Eingewöhnung dient genau diesem Zweck: Das Tageskind lernt die Tagespflegeperson kennen und baut eine bindungsähnliche Beziehung zu dieser auf. Es fasst Vertrauen zu ihr und akzeptiert sie als „Ersatz-Bezugsperson“. Es fühlt sich in der neuen, fremden Umgebung zunehmend wohl und sicher. Dies ist die Grundlage dafür, dass das Kind explorieren (also die neue Umgebung erkunden) und seine Entwicklung in allen Entwicklungsbereichen eigenaktiv vorantreiben kann.
Heute geht die Bindungsforschung davon aus, dass Kinder zu mehreren Menschen bindungsähnliche Beziehungen aufbauen können, dabei aber ganz klar in der Qualität unterscheiden. Das heißt: Auch wenn das Kind die Tagesmutter während den Betreuungszeiten als „sicheren Hafen“ akzeptiert - und es vielleicht sogar „Mama“ nennt - kann es doch ganz klar zwischen dieser und der eigenen Mutter unterscheiden.
Das heißt: Auch wenn es die Tagesmutter als Vertrauensperson akzeptiert, so weiß das Kind doch ganz genau, wer seine Mutter ist. Es verwechselt die beiden nicht. Es akzeptiert die Tagespflegeperson lediglich für einen Teil des Tages als Ersatz-Bezugsperson und findet so seinen Weg, mit der Trennung von den Eltern umzugehen und sich mit der neuen Situation zu arrangieren.
Wie kannst du als Tagespflegeperson bestmöglich verhindern, dass Deine Tageskinder „Mama“ zu Dir sagen?
Wenn Du Dich entscheidest, die Eltern der Tageskinder zu siezen, dann wäre es aus Kindersicht sinnvoll, sich auf die Kombination Vorname und Sie zu einigen. Ansonsten nennen die Eltern Dich „Frau Müller“, die anderen Tageskinder sagen „Nina“ zu Dir und wenn Du eigene Kinder hast, dann sprechen diese Dich vielleicht noch als „Mama“ an. Bei diesen vielen Namen kann es dem Tageskind verständlicherweise schwerfallen, einen Begriff für Dich zu finden.
Wenn die Eltern Dich dagegen auch mit Vornamen ansprechen, so kann das Kind diesen leichter als Bezeichnung für Dich abspeichern.
Biete dem Kind Deinen Vornamen im Alltag an, auch wenn es sich vielleicht manchmal ein bisschen komisch anfühlt zu sagen: „Kommst Du zur Nina, dann können wir zusammen ein Buch anschauen.“
Das Sprechen in der dritten Person ist tatsächlich das, was viele Erwachsene in der Gegenwart von Kindern intuitiv machen („Magst Du mit dem Papa kuscheln?“, „Soll die Mama Dir helfen?“). Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist dieses intuitive Verhalten durchaus sinnvoll und eine Anpassung an die kindliche Entwicklung: Auch das Kind redet noch bis zum dritten Lebensjahr von sich in der dritten Person („Maja aua“). Erst dann entdeckt es langsam seine eigene Identität, spricht allmählich von sich in der Ich-Form und startet in die (für die Bezugspersonen oft anstrengende) Autonomiephase.
Davor ist es für Kinder tatsächlich einfacher zu verstehen, wenn wir sagen: „Komm zu Nina“ (denn das bist ja offensichtlich Du) als „Komm zu mir“ – denn wer ist dieses „mir“? Gerade in den ersten Lebensjahren können Tagespflegepersonen also durchaus ganz unbesorgt in der dritten Person von sich reden. :-)
Wenn ein Tageskind Dich „Mama“ nennt, dann korrigiere es nicht im Sinne von „Ich bin nicht Deine Mama, sondern nur die Tagesmama.“ In diesem Fall ist es besser, die Situation kurz und ohne viel Wirbel zu erklären: „Deine Mama ist gerade arbeiten. Ich bin die Nina.“
Wichtig: Auch für Deine eigenen Kinder kann es verwirrend sein, wenn sie hören, dass Deine Tageskinder Dich „Mama“ nennen. Für viele Kinder ist die Situation, dass ihre Mutter auch andere Kinder betreut und sie deren Aufmerksamkeit und Zuwendung teilen müssen, an sich nicht ganz einfach. Gefühle von Neid und Eifersucht können darum auch bei den Kindern der Tagesmutter aufkommen und verdienen es, von Dir ernst genommen zu werden. Sprich darum auch mit Deinen Kindern darüber, dass Du nur ihre Mama bist, dass Du nur sie liebst und dass die Tageskinder eine eigene Mama haben.
Wie kannst Du dieses Thema mit Eltern besprechen?
Am besten weist Du die Eltern neuer Tageskinder schon in der Eingewöhnung darauf hin, dass es immer wieder passiert, dass ein Kind „Mama“ zur Tagesmutter sagt und dass das sozusagen ein Stück weit normal ist.
Vielleicht kannst Du den Eltern sogar kurz erklären, warum das aus entwicklungspsychologischer Sicht gut erklärbar (und unbedenklich) ist und dass sie – sollte es passieren – ganz offen mit Dir darüber sprechen können. Wenn Du zeigst, dass Du Verständnis dafür haben wirst, dass so eine Situation erst einmal ein Gefühlschaos (Wut, Enttäuschung, Schuld, Neid, Eifersucht) auslöst, dann ist das wie eine Erlaubnis, mit Dir auch immer und vor allem zeitnah über schwierige Gefühle sprechen zu dürfen und diese nicht mit sich herumzutragen, bis sie zum „großen Thema“ geworden sind.
Du kannst mit den Eltern auch vorab besprechen, was sie tun können, um das zu verhindern, also dass sie z.B. Deinen Vornamen verwenden oder von sich in der dritten Person reden. Und erkläre ihnen bitte auch, was Du im Vorfeld tust, um das zu verhindern und wie Du reagierst, wenn es passiert.
Damit zeigst Du den Eltern, dass Du es für möglich (und nicht dramatisch) hältst, wenn ein Tageskind Dich „Mama“ nennt, weil Du in diesem Fall die nötige Kompetenz und Professionalität besitzt, mit der Situation gut umzugehen. Damit gibst Du den Eltern viel Sicherheit – und das ist für Eltern eine wichtige Grundlage dafür, sich bei Dir wohlzufühlen und Dir ihr Kind mit gutem Gefühl anzuvertrauen.
Und wichtig: Wenn ein Kind Dich tatsächlich „Mama“ nennt, dann versuch bitte nicht, dies zu verheimlichen. Erzähl den Eltern beim Abholen davon und schildere ihnen kurz, wie Du reagiert hast und worauf ihr in Zukunft vermehrt achten könnt.
Zusammenfassung
In der Kindertagespflege übernimmt die Tagesmutter oder der Tagesvater für einen Teil des Tages die Rolle und einen Teil der Aufgaben, die normalerweise die Eltern übernehmen. Die Tagespflegeperson wird zur Ersatz-Bezugsperson, die es dem Kind ermöglicht, sich in der neuen Umgebung wohl und sicher zu fühlen. Aufgrund der ähnlichen Aufgaben kann es passieren, dass ein Kind auch zur Tagesmutter „Mama“ sagt, obwohl diese beiden Menschen eine ganz unterschiedliche Bedeutung für sein Leben haben und nicht in Konkurrenz zueinander stehen. Tagespflegepersonen sollten sich und die Eltern ihrer Tageskinder darum darauf vorbereiten, dass so etwas passieren kann und sich vorab einen „Plan“ zurechtlegen, wie sie damit in ihrem Berufsalltag umgehen können.
Verwendete Literatur
[1] Pauen Sabina (o.J.): Wie Babys Begriffe lernen. (letzter Zugriff: 21.04.2020).